Wahlverfahren

In der Literatur zu den Wahlverfahren werden selten die “Prozessmodalitäten” (manchmal auch abwertend “Prozessformalitäten”) beleuchtet, wie bspw. die Art der Kommunikation in der Vorschlagsphase oder die Art der Stimmabgabe (Klassiker: Geheime/Anonyme Wahl). Meist geht es um die Bewertung der einzelnen Alternativen und den Algorithmus zu Auswertung der abgegebenen Bewertungen. Hierzu findet man eine Übersicht bei Wikipedia unter dem Begriff “Wahlsystem” [Wikipedia2023-2] bzw. „Wahlverfahren“ [Wikipedia2023-3].

Rangverfahren vs Bewertungsverfahren

Zunächst mal kann unterschieden werden zwischen Mehrheitswahl-, Rangwahl- und Bewertungswahlverfahren (Achtung: im Englischen heißen die Rangwahlen “Rank Voting” und die Bewertungswahlen “Range Voting” bzw. “Score Voting” – “Range” im Englischen ist also ein Bewertungsverfahren!). Diese Unterscheidung ist enorm wichtig. Das hat spieltheoretische, sozialwissenschaftliche und mathematische Hintergründe. Denn für Mehrheits- und Rangwahlverfahren gilt das Unmöglichkeitstheorem von Arrow, welches besagt, dass man hier nicht vernünftig zu einer gemeinsamen Entscheidung kommen kann, wenn man auf die Einhaltung bestimmter Grundvoraussetzungen besteht. (Siehe [Wikipedia-1:Eigenschaften] oder auch [Arrow1963]/[Wikipedia-4] und [BambergCoenenbergKrapp2019:216ff])

Und das betrifft leider auch die meisten Wahlverfahren in den westlichen Demokratien. Siehe [Wikipedia-4:Beispiele] und auch [ElectionScience], [FairVote], [ElectoralReformSociety] und [Poundstone2008].

Warren D. Smith hat mittels Baysian Regrets untersucht, wie verschiedene Wahlverfahren in Bezug auf das Ergebnis empfunden werden [SmithWeb:BayRegExec]. In diesem Bild, das sich auch in dem Buch von Poundstone [Poundstone2008] findet, werden die Ergebnisse für ein bestimmtes Szenario zusammengefasst:

Beurteilung von Wahlverfahren mittels Bayesian Regrets von W. Smith ; entnommen aus dem Buch von Poundstone
Beurteilung von Wahlverfahren mittels Bayesian Regrets von W. Smith ; entnommen aus dem Buch von Poundstone

Man erkennt deutlich, dass bei einem aufrichtigem (und nicht taktischen) Wahlverhalten, Range Voting am besten abschneidet. “Appoval” ist das einfachste aller Bewertungsverfahren. “Borda”, “Condorcet” und “Instand Runoff” sind Rangverfahren. “Plurality” ist die Mehrheitswahl; das einfachste der Rangverfahren.

Man kann diese Grundproblematik wie folgt zusammenfassen: Wenn eine Person nur eine Alternative wählen darf (also die Mehrheitswahl, die in Demokratien üblich ist), gibt sie faktisch keine Bewertung zu den anderen Alternativen ab. Die Mehrheitswahl ist sozusagen eine Extremform der Rangverfahren, weil man ausschließlich den ersten Rang bestimmt. Rangverfahren, die es erlauben, alle Alternativen in eine Rangfolge zu bringen, sagen zwar etwas über alle Alternativen aus, weil alle in eine Rangfolge gebracht wurden, aber es ist weder ersichtlich, wie stark sich die Präferenzen unterscheiden, noch, wo sozusagen die Schmerzgrenze liegt. Mag man die Alternative auf Rang 2 nur halb soviel wie die auf Rang 1 oder liegen die knapp hintereinander? Und: Mag jemand eine Alternative, die er als dritte von acht gewählt hat nur weniger als die ersten zwei oder gar nicht? Weil die Unterschiede im Zuspruch/Widerstand nicht sichtbar sind, zählen die Rangverfahren zu den Ordinalverfahren, sie messen nur ordinal. Bei den Bewertungsverfahren hingegen, wird explizit zu jeder Alternative die Stärke des Widerstands oder Zuspruchs angegeben. Es wird also kardinal gemessen.

DAD richtet sich in erster Linie an Organisationen, die frei sind in der Wahl ihrer Wahlverfahren. 😉

Und DAD will es besser machen.

Daher nutzt DAD die Bewertungsverfahren, die im folgenden erklärt werden.

Widerstandsabfrage

Bei dem in der Soziokratie als Quasi-Standard angewendeten Verfahren handelt es sich um ein Bewertungsverfahren, dass ausschließlich auf KonsenT schaut und somit lediglich den Widerstand misst. Hier sind mehrere Skalen möglich, zwei Skalen sind üblich.

Skala für den klassischen systemischen KonsenT:

  • 0 steht für “kein Widerstand” (Akzeptanzgrenze)
  • -1 für “leichter Widerstand” (also im Toleranzbereich)
  • -2 für “starker Widerstand” mit der Folge des “schwerwiegenden Einwands” bzw. des “Vetos” (siehe auch KonsenS vs. KonsenT)

Skala für die Widerstandsabfrage beim systemischen Konsensieren:

  • von 0 bis -10
  • 0 steht wieder für die Akzeptanzgrenze, also „kein Widerstand“
  • Die Minuswerte stehen für den zunehmenden Widerstand im Toleranzbereich
  • Beim systemischen Konsensieren gibt es bei der Abstimmung typischerweise kein Veto, weil vorher in der Vorschlagsphase die Alternativen bereinigt werden (dort werden also „schwerwiegende Einwände“ integriert).

Wenn jeder Teilnehmer seine Stimme abgegeben hat, wird bei DAD der Durchschnitt je Alternative errechnet und die Alternativen werden danach absteigend sortiert.

Vetos

In der Soziokratie ist es üblich, den Entscheidungsprozess synchron, also in Echtzeit in einer Besprechung, vorzunehmen und “schwerwiegende Einwände” müssen berücksichtigt werden. Durch diese “Integration von Einwänden” direkt im Meeting entstehen neue Vorschläge und solche mit “schwerwiegenden Einwänden” stehen nicht mehr zur Wahl. Das gilt auch für Governanceänderungen in Holacracy.

In einem asynchronen Prozess – wie er durch das Modul 2 von DAD ermöglicht wird – muss das ebenfalls kommunikativ gelöst werden. Das bedeutet, dass der Einwandgeber dies klar in seinem Kommentar formulieren muss. Idealerweise entwirft der Vetogeber bereits einen neuen, “integrierenden” Vorschlag. Wird das gemacht, kann der mit Veto bedrohte Vorschlag bereits in der Vorschlagsphase vom Vorschlagenden gelöscht werden.

Ein Einzelveto ist durchaus kritisch zu sehen, da es Veränderung verhindern kann und voraussetzt, dass die Gruppenmitglieder, die entscheiden, alle Alternativen im ausreichenden Maße verstehen und somit überhaupt beurteilen können und – siehe KonsenS vs. KonsenT – sich mindestens ihre Toleranzbereiche alle überlappen, was für sehr große Gruppe selten gegeben sein dürfte.

Full Range

Dieses Bewertungsverfahren unterscheidet aktiv zwischen dem Akzeptanz- und Toleranzbereich und bezieht das ganze Spektrum von Widerspruch, Enthaltung und Zuspruch ein. Es misst den Grad des Zuspruchs (die Präferenzunterschiede im Akzeptanzbereich) und den Grad des Widerstands (die Präferenzunterschiede im Toleranzbereich). Die Enthaltung entspricht der Akzeptanzgrenze. Also jenem Punkt, an dem eine Alternative nicht mehr wirklich befürwortet wird, aber auch nichts dagegen spricht.

Die aktive Unterscheidung von Zuspruch und Widerstand bietet nun die Möglichkeit zwischen “Leid” (dem, was man erdulden muss) und “Befriedigung” (dem, was man bevorzugt) auszutarieren.

Üblicherweise wird der Vermeidung von Leid mehr Gewicht gegeben als der Erzeugung von Zufriedenheit. Daher kann der Widerstand hier gewichtet werden. Dieser Faktor stellt eine Art Wechselkurs zwischen den positiven und negativen Bewertungen dar, der wahrscheinlich mit den Gruppen und Themen variiert. Er sollte zumindest größer als 1 sein, um den Widerstand über den Zuspruch zu stellen. Wird er zu groß, dann ist wieder ein Einzelveto möglich.

Referenzen